Wer kennt nicht eine der Figuren aus den Geschichten aus «Tausendundeiner Nacht»? Ebenso geheimnisumwoben wie etwa Sindbad sind aber auch die Geschichtenerzähler selbst.

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Der Geschichtenerzähler nimmt seine Arbeit äusserst ernst, denn er ist sich seiner Verantwortung als Überlieferer von Botschaften bewusst.

Von Fadi Hassaneen aus Syrien

Dies ist die Geschichte von Damaskus. Die Hauptstadt von Syrien wird schon seit mehreren Tausend Jahren bewohnt und ist damit eine der ältesten Städte der Welt. Manch einer betrachtet sie zudem als eine der Schönsten.

Verschiedene Zivilisationen wie die Kanaaniter, die Assyrer, die Aramäer und die Babylonier haben in Damaskus gelebt, ihre Spuren hinterlassen, die Stadt geprägt und ihr viele Namen gegeben wie etwa«Atemberaubender Garten».

Damaskus ist die Stadt der Magie und der Poesie. Damaskus ist wie eine Frau. Wenn sie ihre Augenbrauen hochhebt, schämen sich alle Städte vor ihren Augen. In der Nacht hört man sie grundlos lachen und weinen, was bedeutet: Die Stadt lebt.

Sie ist das Jasminfeld vor den Fenstern und Türen der Damaszener. Damaskus ist die Überraschung. Sie lässt dich plötzlich weinen oder lachen, wenn du in ihren alten Gassen spazieren gehst und in deinem Kopf Hunderte von Fragen auftauchen.

Da hast du das Gefühl, die Schritte aller Leute zu hören, die gestern, vorgestern oder vor tausend Jahren hier waren. Damaskus ist die Hauptstadt der Geschichte.

Sie ist die Liebe jedes Träumers, der einfachen Menschen, der Dichter und der Verrückten. Sie zeigt ihre Schönheit und ihren Stolz und, seit Beginn des ersten Buchstabens im Alphabet, dass sie alles an die Menschen verteilt wie einen Brotlaib.

Diese Frau ist das Spiegelbild eines Vogels, der mit seinen Krallen unser Inneres berührt und mit unseren Sinnen spielt, der mit seinem Schnabel sanft an unseren Fingern pickt.

Damaskus ist die Nacht, Damaskus ist der Tag. Damaskus bewohnt unsere Gedanken. Ihre Minarette leuchten unseren Booten zu und zeigen ihnen den Weg.

Die Minarette der Umayyaden-Moschee sind mit unserer Seele tief verwurzelt und zeigen uns den Weg zu den Apfelgärten, die aus unserer Seele kommen.»

Geschichten spielen eine grosse Rolle

So spricht dieser Damaszener Mann oder wie man ihn auch nennt, der Geschichtenerzähler. Er ist aus dem Schoss dieser grossen Stadt geboren. Der Geschichtenerzähler ist der Mann, der in Häusern, Geschäften oder Cafés Geschichten und die beliebten Romane erzählte.

Früher haben sich die Leute rund um ihn herum versammelt und seinen Geschichten gelauscht. Dieser einfache Mann, dieser Geschichtenerzähler, hat in Damaskus eine grosse Rolle gespielt, indem er durch seine Erzählungen und Gespräche die Werte, die Kultur und das Bewusstsein der Damaszener Menschen von einer Generation zur andern weitergab.

Er war nicht zufrieden mit dem blossen Erzählen der Geschichte. Er ging eine dauerhafte Verbindung mit dem Publikum ein, indem er sich verwandelte, seine Stimme und Bewegungen der Rolle anpasste. Er sass auf einem bequemen, mit Muscheln verzierten, antiken Stuhl, der mit erlesenen Teppichen bedeckt war. Neben ihm stand ein kleiner Tisch voller alter Manuskripte, darunter Märchen, alte Geschichten, berühmte Volksepen wie «AlZair Salim», «Antar», «Tausendundeine Nacht». Der Geschichtenerzähler nahm seine Arbeit sehr ernst und achtete auf sein
Aussehen. Bekleidet war er stets mit traditionellem Gewand. Er trug eine schwarze orientalische Hose, eine Weste mit Stickerei, auf seinem Kopf einen kleinen roten Hut und auf seinen Schultern einen weissen Schal aus Seide.

Geschichten als das Gegenteil von Fernsehen

Der Geschichtenerzähler zog die Zuhörer in den Bann und brachte ihnen die Werte, den Geist und die Tugend der Charaktere aus seinem Roman näher. Dabei nährte er die Seelen der Zuhörer und ihren Verstand, besonders bei der jüngeren Generation. Mit dieser Fähigkeit und mit diesem Bewusstsein steht er im Gegensatz zu dem, was heute Fernsehen und Internetplattformen weitergeben.

Geschichtenerzähler war ein Beruf, der im ganzen arabischen Raum und in der Levante anzutreffen war. Der Beruf existierte über Generationen und hat sich in seinem Wesen seit vielen Jahrzehnten nicht geändert. Die Arbeitszeit des Geschichtenerzählers war täglich zwischen dem Abendgebet und dem Nachtgebet. Es war nur eine kurze Zeit, oft nicht mehr als eine Stunde, aber manchmal verlängerte er sie bis zum Morgengrauen.

Und das Ende der Geschichte?

Der Geschichtenerzähler setzt sich auf seinen Stuhl, öffnet sein altes Geschichtenbuch, das er immer bei sich trägt, und beginnt daraus vorzulesen. Die Geschichten drehen sich um Persönlichkeiten und Heldentum, sie erzählen von Ehre und Vision und davon, wie immer am Ende der Geschichte, das Gute über das Böse triumphiert. Beim Erzählen spielt der Geschichtenerzähler die Charaktere so lebhaft und mit so viel Gefühl nach, dass manche Zuhörer sich weigern, nach Hause zu gehen, bevor sie nicht erfahren haben, wie sich der Held aus der Sackgasse rettet oder wie er die Prüfung besteht.


Das Übersetzen dieses Textes aus dem Arabischen war eine Herausforderung.

Der schwierige Job des Übersetzers

Fadi Hassaneen hat in Syrien Biologie studiert und lebt heute in Rebstein. Den Text des Geschichtenerzählers hat er in Versform auf Arabisch verfasst. Die Übertragung in die deutsche Sprache hat hohe Anforderungen an die Übersetzer gestellt. Während mehrerer Monate versuchten versierte
Sprachkundige, den literarischen Text in eine deutsche Form zu fassen. Majd Sawas, Schlüsselperson und Übersetzer bei der Fachstelle Integration Rheintal und Mitglied der Mediengruppe #refujournalists der ersten Stunde, nahm sich dann der Aufgabe an und fand deutsche Worte für den
poetischen Text.

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