Welches Verhalten passt in welche Kultur? Beim Thema Integration geht es um Kontakt, Sprache, Arbeit – und um Mentalität.
Um die Möglichkeit, sein Verhalten anzupassen, ohne die eigenen Werte zu verlieren.
Kommt man neu in ein Land, muss man sich anpassen – ganz gleich, wie
heikel die Situation dadurch zu Hause wird. Das ist meine Devise. Das dachte ich schon 2010, als ich ganz frisch in der Schweiz war. In meinem damaligen Umfeld durfte ich das nicht laut sagen.
Ich bin durch Familiennachzug in die Schweiz gekommen, daher hatte
ich kaum Unterstützung durch Schweizer Ansprechpersonen. Wenn man selber Asyl sucht, wird man begleitet. Es gibt Transit- oder Integrationszentren, wo man Informationen erhält und durch Schweizer Bezugspersonen unterstützt wird. Bei mir war das anders. Daher beschränkte sich mein Kontakt anfangs auf meine Landsleute.
Erst als ich die deutsche Sprache etwas beherrschte, habe ich angefangen, Kontakte zu Schweizerinnen zu knüpfen, die hiesige Kultur zu erforschen. Davor tauschte ich mich vor allem mit kurdischen Familien aus, die zum Teil schon über zehn Jahre in der Schweiz lebten.
Hier ist das offenbar normal. Diese Kurdinnen haben gelegentlich
über die Schweizerinnen gelacht; sie konnten zum Beispiel nicht verstehen,
dass sie sich am Strand in aller Öffentlichkeit, nur geschützt durch ein Badetuch, umziehen können. Ihre Reaktion wollte mir schon damals nicht in den Kopf. Ich fragte sie: «Warum lacht ihr sie aus? Bei uns wäre das nicht normal, hier aber offenbar schon. Wenn es hier nicht normal wäre, würden es diese Frauen nicht machen. Bei uns wäre ihr Verhalten eine Schande, hier passt es hin. Das müssen wir akzeptieren.» Sie konnten mich nicht verstehen. Sie wollten auch nicht. Sie wollten bei ihren Werten bleiben. Ich habe viele ähnliche Erfahrungen gemacht. Da habe ich gemerkt: Das ist nicht mein Umfeld.
Menschen beobachten
Die Frage ist simpel: Welches Verhalten passt in welchen Kontext? Wenn ich
hier eine Frau mit Kopftuch am Badestrand sehe, dann passt es nicht. Zu
hause tragen Frauen ihr Kopftuch unter anderem, um sich vor (lüsternen)
Blicken zu schützen. Hier werden sie eher (wütend) angeschaut, wenn sie
ein Kopftuch tragen. Die Schutzfunktion wäre also eher gegeben, wenn sie
es ablegen würden. Bei uns funktionieren die Menschen nicht anders: Ginge im Irak eine Frau halb nackt durch die Strassen, würde sie auch wütend angeschaut.
Ähnlich ist es übrigens, wenn wir eine Frau mit Ganzkörperverhüllung
(Tschador) sehen. Das ist bei uns auch nicht üblich. Wir müssen einfach
lernen, wie die jeweilige Kultur funktioniert.
Ihre Regeln kennen.
Ich habe mich von Anfang an für die Schweizer Kultur interessiert, habe
die Menschen beobachtet. Wenn man sich die Zeit nimmt und sich jeweils
vorstellt, was es bedeutet, kann man fremdes (und vielleicht irritierendes)
Verhalten besser akzeptieren. Selbstverständlich gibt es zwischen der kurdischen und der Schweizer Kultur viele Unterschiede. So dürfen zum Beispiel Mann und Frau bei uns nicht unverheiratet zusammenleben – hier
schon. Solche Dinge brauchen Zeit, um sie anzunehmen. Integration ist ein innerer Prozess. Es geht vor allem um Akzeptanz und Anpassung – nicht unbedingt darum, die neue Weltanschauung komplett zu übernehmen. Kultur ist das eine, Religion das andere. Wenn ein Verhalten auf Religion gründet, ist es sehr schwierig zu ändern. Wenn es den Regeln der Kultur folgt, ist es etwas einfacher. Im ersten Fall wäre ein Verstoss eine Sünde, im zweiten Fall «nur» Schande.
Sünde und Schande
Wer in unserer Kultur anders lebt, lebt tendenziell in Gefahr. Besonders dann, wenn er gegen religiöse Regeln verstösst. Das ist eine Sünde. Aber auch bei uns gibt es beispielsweise selbstständige Frauen. Religion sagt nicht, dass die Frau nicht alleine leben und unabhängig sein darf. Hier ist es «nur» die Kultur, die Einwände hat. Die Kultur hat uns natürlich geprägt. Dadurch gibt es auch innerliche Barrieren. Nicht nur, weil man die (zum Teil drastische) Bestrafung durch Landsleute fürchtet, sondern auch, weil diese Grenzen tief im Gehirn verankert sind.
Manche Dinge sind tief verinnerlicht: Kein Kopftuch zu tragen ist
Schande. Ein kurzes Kleid anzuziehen ist Schande. Ins Schwimmbad zu gehen ist Schande. Tief drin bleibt die Angst, im Badeanzug von Landsleuten gesehen zu werden, die die «Schande» dann weitererzählen. Eine innere Schranke, die mich auch daran hindert, mit meinem Sohn ins Schwimmbad zu gehen. Doch wenn die Aufforderung von der Schule kommt, alle Eltern müssten mit ihren Kindern schwimmen gehen, dann werde ich es trotzdem machen. Ich akzeptiere die Regeln. Mich hindert «nur» die Angst vor Schande, schwimmen zu gehen ist keine Sünde.
Ohne Kopftuch – Sünde?
In meinem Land bewegen sich viele Frauen ohne Kopftuch. Ich habe einmal mit einem Bekannten diskutiert, der findet, seine Frau und seine Tochter müssten das Kopftuch tragen. Ich fragte ihn warum. Er meinte, eine Frau ohne Kopftuch sei Sünde und schändlich. Ich fragte ihn also, ob er denn auch bete, faste und freitags in die Moschee gehe, wie es der Koran von den Männern verlangt. Er sagte «gelegentlich» und «nein». Ich entgegnete, dann reiche es doch auch, wenn die Frauen gelegentlich ihr Kopftuch tragen würden.
Ich meine, Fasten und Beten ist doch viel wichtiger als ein Stück Stoff.
Sie sind zwei der fünf Säulen des Islam. Viele Männer möchten ihre Frauen
«aus Liebe» verhüllen; damit kein anderer Mann ein Stück Haut oder Haar
von ihnen sieht. Da geht es nicht um Religion und auch nicht um Kultur.
Gesellschaftliche Regeln akzeptieren
Wenn mein Sohn in der Schule Weihnachtslieder mitsingt, habe ich damit
keine Probleme. Ich gehe auch hin und höre zu. Eigentlich passt es nicht in
unsere Kultur, zu unserer Religion. Doch da es alle anderen machen, gehört
es hier zu den gesellschaftlichen Regeln. Dann akzeptiere ich das auch.
Es bedeutet ja nicht, dass mein Sohn plötzlich Christ ist. In meinem Land
darf er diese Lieder allerdings nicht singen. Diese Unterschiede muss er lernen. Er muss lernen, in zwei Welten zu leben. Es ist wie mit Kleidung – in ein Klima passt sie, für das andere ist sie nicht angemessen. Ich bleibe Muslimin, auch wenn ich etwas mitmache, das nicht zu meiner Religion passt. Viele sagen, das dürfen sie nicht. Aber der Glaube ist doch etwas Tieferes als das Verhalten. Wichtig ist, was ich im Herzen trage. Wenn wir unser Verhalten nicht anpassen können, dann wird es sehr hart, hier zu leben.
Grosse kulturelle Unterschiede
Für mich persönlich handhabe ich Integration so: Was mit meiner Religion
zu tun hat (beten, fasten, spenden etc.), mache ich weiterhin. Damit schade ich niemandem. Ich muss es nicht zeigen, es ist eine Sache zwischen mir und meinem Gott. Was soziale Konventionen anbelangt, kann ich mich anpassen.
Das sind gesellschaftliche Regeln, die man lernen kann. Ich habe durch
Beobachten viel gelernt. Und auch wenn ich manche Verhaltensweisen
nicht verstehe, akzeptiere ich sie einfach. Das Leben hier ist sehr anders. Die Kulturen sind sehr verschieden.
Ein Beispiel ist etwa das Zeitmanagement. Hier haben die Menschen immer viele Termine. Wenn man sich treffen will, muss man meist frühzeitig anfragen, damit der Besuch geplant werden kann. Bei uns zu Hause haben die Menschen
nicht so viele feste Abmachungen. Vor einem Besuch reicht es, kurz
anzurufen, ob der andere auch zu Hause ist. Einkäufe müssen nicht geplant
werden, da die Läden auch in der Nacht geöffnet sind. Wenn jemand
zum Arzt muss, geht er einfach hin und setzt sich in den Wartesaal, ohne
vorher anzurufen. Die Arbeitstage beginnen in der Regel später als hier. Die
Mütter bleiben häufig zu Hause, kümmern sich um den Haushalt und
schauen gemeinsam zu den Kindern, die meist draussen in den Strassen
sind und miteinander spielen. Ein Aspekt des Lebens dort, den mein Sohn,
obwohl er ihn nur kurz kennengelernt hat, hier vermisst.
Achtung Missverständnisse
Kulturelle Unterschiede können zu Missverständnissen führen. Wenn zum
Beispiel jemand ausserhalb unserer Kultur zu einer kurdischen Familie
nach Hause kommt, entsteht leicht der Eindruck, die Kinder hätten keine
Spielsachen und würden in ihrer Entwicklung nicht gefördert. Unsere Kinder haben durchaus Spielsachen, doch bei uns gehört es zur guten Sitte, dass das Haus immer sauber und aufgeräumt ist – bereit für mögliche Besucher.
Dazu gehört eben auch, dass die Spielsachen der Kinder immer wieder
weggeräumt werden. Verhalten wie dieses ist tief in uns drin, das wurde
uns von klein auf beigebracht. Ich persönlich erwarte von Menschen,
die in einer anderen Kultur leben, dass sie deren Bedeutung und die
Mentalität der Menschen verstehen lernen. Man kann sich nicht in allen
Bereichen anpassen, aber man kann die neue Gesellschaft und ihre Regeln
beobachten, annehmen und verstehen. Man kann sich fragen: Was passt zu
und was schadet dieser Kultur? Und sich entsprechend verhalten.